Die doppelte Ente

Bei zu schwachem Wind macht das Feierabendfliegen mit Drachen hier an den Mittelgebirgs-Hügeln nur kurze Freude. Spät bin ich heute von der Arbeit weggekommen. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang reicht zum Aufbauen und Abgleiten nicht ganz. Zu diesem Zweck hat ein leinenpflichtiger Leichtwind-Drachen den Weg in meine Tasche ge- funden. Der Canard (französisch: Ente) ist heute mit Lüften dran, und das mit einer noch realistischer aussehenden Ente im Schlepptau.
Die hiesige Gleitschirm-Szene ist heute in Roxheim wieder stark vertreten und so gelingt uns dieser schöne Schnappschuss.
Liebe leinenpflichtige abschweb.de-Leser! Bitte nicht nachmachen!
Dieses Bild ist das Ergebnis eines zuvor genau abgesprochenen Formations- fliegens. Wenn Ihr irgendwo Drachen- oder Gleitschirmflieger seht, lasst bitte keine Drachen oder Kites steigen. Das ist lebensgefährlich, weil wir aus der Luft Eure Leinen praktisch nicht sehen können. Bitte freut Euch an dem Anblick, und geht dann einen halben Kilometer weiter. Ihr dürft ja auf jeder Wiese, wenn nicht Stromleitungen oder Verkehrswege in der Nähe sind. Wir sind auf unsere wenigen zugelassenen Startplätze angewiesen.
Das rundlich-längliche Flugobjekt, was sich hier mit ins Bild geschummelt hat, wird pilotiert von Micha K., einem der besonders aktiven Piloten hier an der Nahe. Er fliegt mit unglaublicher Geschicklichkeit und Kontrolle. Aus der Luft schließt er offen stehende Autotüren, um danach weiter zu fliegen. Mit seinem nostalgischen weißen Flügel schwebt er wie ein Engel rückwärts driftend in den Startplatz ein und landet mit einem Fuß auf einer Briefmarke. Mit so einem Typ kann man solche Aufnahmen zaubern, während andere wie gebannt genau auf das unbekannte Flugobjekt zubrettern würden. Bis zum Dunkelwerden vergnügen sich die Gleiti-Jungs später wieder ungestört an diesem schönen Vorfrühlings-Abend.
Der Canard ist gar nicht so „-pflichtig“ für die Leine. Beim Einholen oder in einer Flaute kommt er im Gleitflug dem Piloten entgegen, ein Garant für weiche Landungen. Man kann ihn durch Laufen oder mit einem thermischen Blubber in höhere Luftschichten steigen lassen. Dort segelt er dann friedlich vor sich hin, obwohl sich am Boden kein Lüftchen regt. Interessant, manchmal wechselt er sogar die Richtung in die er fliegt.
Er ist ein Hightechprodukt mit Vollcarbon-Gestell, Segel aus extraleichtem Nylon und Verspannungen aus Dyneema. Der Pfiff an der Konstruktion ist, dass eine mit den Verspannungen in die Kielstange eingebrachte Biegung dem Vorflügel den nötigen steileren Anstellwinkel verleiht. Ein Querrohr oder Holm ist unnötig, da identisch mit den Flügelrohren, die wie beim Nasensporn-Hängegleiter nach vorne abgespannt sind.
In Vollcarbon sind inzwischen die ersten Wettkampf-Hängegleiter unterwegs. Einen Nasensporn-Drachen mit ähnlicher Farbgebung habe ich selber lange und mit viel Freude geflogen.
Entenflügler dagegen haben in der Drachenszene zu meiner stillen Verwunderung bis heute keinen Platz gefunden. Dabei haben schon Otto Lilienthal und die Gebrüder Wright Flieger mit dem Höhenruder vorne geflogen.
Entenflügler sind eigentlich das aerodynamisch überzeugendere Konzept, als ein klassisches Flugzeug. Ein Vorflügel, der beim Höhenrudern zusätzlichen Auftrieb erzeugt, kommt mir -naiv betrachtet- effektiver vor, als das übliche Runterdrücken des Flugzeugschwanzes vom hinten angebrachten Höhenleitwerk aus.
Bei den Segelfliegern gibt es experimentelle Konzepte (Canard SL, sic!) mit Entenflügeln, denen fantastische Leistungsparameter zugeschrieben werden.
Auch einige namhafte Drachenflug-Pioniere haben mit Entenflügler-Drachen herum experimentiert. Dann gab es einen tödlichen Unfall und das war das Ende der kreativen Strömung.
„Ducki“, der hier den Canard begleitet, ist ein nicht eigenflugfähiger Leinenschmuck. Einfacher gesagt ist er ein Windsack. Aber er sieht einer Ente doch ähnlicher als der intellektuell reizvolle Entenflügler mit dem französischen Namen.
Ducki hat eine Zukunft als schicker „Bremsschirm“ für meine Drachenfliegerei vor sich. Der erste Versuch endete in einer Pfütze. Das hat aber der Ente nichts ausgemacht.
Ob ein Entenflügel oder ein Nurflügel, wie unsere heutigen Delta-Hängegleiter effektiver, besser kontrollierbar oder angenehmer zu Fliegen ist, kann ich nicht beurteilen. Ich bin Sport- und Freizeit-Flieger und will viel fliegen, draußen sein an der frischen Luft und Sonne. Am intellektuellen und ästhetischen Reiz einer schönen, möglichst schlichten Konstruktion wie dem Canard kann ich mich erfreuen. Aber ein Konstrukteur oder Bastler bin ich nicht. Schöne Geräte entwerfen und bauen können andere viel besser. Ich fliege und lobe gerne deren Produkte.
Nachtrag 9.3.2009
Außer dem oben verlinkten Michael Schönherr hat auch der Brite Len Gabriels eine Drachenente gebaut. Er ist im Gegensatz zu Michael damit geflogen und zwar schon 1977.
Er kam zu dem Ergebnis "...certainly gave very positive pitch stability, but the performance was disappointing." Der Nasensporn Drachen mit Vorflügel war recht pitch-stabil, aber die Leistung war enttäuschend ...
Ein Bild im Fluge, Videos und ein Interview mit dem Erbauer sind auf der auch sonst betrachtenswerten neuen Seite british-hang-gliding-history.com zu finden.
Nachtrag 2 (23.12.2009):
Michael Schönherr schreibt uns zu dieser Geschichte:
... Sie gehen dabei auch auf den "Entendrachen" ein und erwähnen Len Gabriels, der im Gegensatz zu mir schon 1977 mit einer Drachenente selbst geflogen sei, und schlechte Leistung festgestellt habe.
Gestatten Sie mir hierzu einige Klarstellungen:
Zunächst ist festzustellen, dass der erste Entendrachen von Reinhold Platz entwickelt und schon 1921 bemannt geflogen wurde. Aber auch der Platz-Gleiter hatte eine sehr schlechte Leistung. Der Grund ist bei Gabriels und Platz schnell angegeben: Er liegt im Hauptsegel, das bei all diesen und vergleichbaren Konstruktionen wölbungsbedingt eine starke leistungszehrende Schränkung hat. Beim gepfeilten Flügel braucht man diese Schränkung zur Flugstabilisierung, sie ist auch wegen der besonderen Pfeilflügelaerodynamik weniger schädlich. Da man aber dann schon ausreichend Flugstabilität hat, ist jede zusätzliche Stabilisierungsfläche leistungsschädlich. Beim ungepfeilten Hauptflügel des Platz-Gleiters ist die Segelschränkung gänzlich leistungsschädlich.
Bei beiden Konzepten kommt hinzu, dass ein viel zu nah am Hauptflügel liegender, teils großer Vorflügel die Hauptflügelanströmung enorm stört, so habe ich bei den von mir selbst getesteten Platz-artigen Gleitern jeweils eine deutliche Profildelle in dem Hauptflügelbereich, der hinter dem Vorflügel lag, feststellen können. Beide Konzepte sind also, wenn man Leistung will, Fehlkonstruktionen.
Mein Ansatz war nun ein ganz anderer: Wenn ich einen Entendrachen mache, dann muss die Stabilität entengemäß vom Vorflügel her kommen, ich brauch dazu weder Schränkung noch Pfeilung. Ein Segel-Hauptflügel lässt sich nach dem "zylindrischen" Wölbungsprinzip ohne Schränkung und Pfeilung realisieren, der Vorflügel kann am langen Hebelarm liegen und klein sein. Zusätzlich kann man allein durch Rollen und Pitchen des Vorflügels und ohne Bremsklappen das Fluggerät aerodynamisch steuern und Flattersturz/Tucksicherheit erzielen und große Flügelstreckung beherrschen.
In meiner letzten "Flattersturzfolge" vom September 1979 habe ich diese Entwicklungsphilosophie (ohne Vorflügelsteuerung) im wesentlichen angegeben: www.m-schoenherr.de/LetzteFolge.pdf Alles wurde dann am 5m-Modell bis 1982 realisiert und in hunderten von Flügen belegt.
In meiner "Drachenfluggeschichte" habe ich vor kurzem Ergänzungen einge- führt, in Teil 1 ist ein bemanntes Platz-ähnliches Gerät im Flug zu sehen, im Teil 4 findet sich jetzt auch mein erster Entendrachen mit noch spitzen Plasikfolien-Flügeln sowie sein GFK-Drachengestell aus 1980
Vielen Dank an Michael Schönherr für diese fundierten und spannenden Ergänzungen.
WinDfried (Freitag 25. Januar 2008)