Metamorphose

Alles begann mit dem kollektiven Geschenk unserer Freunde zu Peters 50. Geburtstag.
Schon in frühester Jugend war mein Mann begeisterter Segelflieger. Seit ich ihn kenne hat er diesen bewußten Traum vom Fliegen, mit dem für diese Menschen typischen Blick im Gesicht: Sehnsucht nach Freiheit und so... Für mich immer etwas unverständlich. Aber er kannte schon immer alle Vögel mit ihren Eigenarten, bewunderte die Störche beim Thermikfliegen über der Wiese und bestaunte selbst die Libellen bei ihrer exzellenten Luftakrobatik.

Er wünschte sich einen Gleitschirmkurs und bekam ihn.

"Und du? Fliegst du auch?" wurde ich von allen Seiten gefragt. "Ich?? Niiiee!!!" Nicht, daß ich nichts übrig hätte für Sport. Motorradfahren zum Beispiel. Das wär's noch mal. Aber keine zehn Pferde kriegen mich in die Luft. Hatte ich doch gerade vor einem reichlichen Jahr mein Gleichgewicht verloren und langsam, langsam bis heute wiedergefunden (mir fiel Anfang 1999 plötzlich das Gleichgewichtsorgan im Ohr aus). Dieser Totalschwindel, bei dem man überhaupt keine Orientierung von oben und unten, vorn und hinten, rechts und links hat, und die Welt sich um einen herum nur noch dreht, bis hin zum Erbrechen, ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Wochenlang konnte ich nicht Auto fahren, monatelang vermied ich jede ruckartige Kopfbewegung und auf Leitern steigen war ein absolutes Tabu. Inzwischen ist das alles wieder im grünen Bereich - aber die Vorsicht bzw. die Angst, daß es wiederkommt ist geblieben. Trotzdem freute ich mich auf diese Woche. Endlich mal abschalten, ausruhen, schlafen und - wandern, lesen und die Aktivitäten der anderen dokumentieren.

Dann waren wir in dieser wunderschönen Gegend.

Die schroffen Felsen der Alpen waren sofort das erste, was ich nach der Wende sehen wollte. Und wie damals lösen sie immer noch bei ihrem Anblick Schauer der Ehrfurcht aus. So viel Schönheit! Schlicht und wild stehen sie da und zeigen uns Flachländern, wieviel Kraft diese Erde hatte und noch hat! Ewig könnte ich sie anschauen, aus immer neuen Blickwinkeln und in immer anderen, sich ständig verändernden Farben und Konturen, die sich aus dem Wechsel von Licht und Wetter ergeben.

Gleich am ersten Tag in der Flugschule bei Gisela und Manfred sagte Gisela zu mir-. "Du mußt auch mal fliegen. Einfach damit du weißt, was dein Mann da in den nächsten Tagen durchmacht und um das gleiche fühlen zu können!"

"Nein, ich bestimmt nicht..." Aber das Samenkorn war gelegt und entwickelte sich. Zunächst hatte meine natürliche Abwehr alles unter Kontrolle. Am Übungshang schaute ich zuerst zu, wie sich alle quälten mit den vielen Leinen und dem Schirm und widmete mich dann meinem Buch. Als die ersten dann schon beachtlich lange in der Luft hingen, konnte ich den Blick selten abwenden, und das Buch wurde Nebensache.
Am Abend sagte Manni: "Willst du nicht mal mit mir mitfliegen?"

"Am Tegelberg etwa??" Völlig absurd.

Aber das Samenkorn hatte sich inzwischen entfaltet und irgend etwas entwickelte ein Eigenleben in meinem Bewußtsein. Die anderen aus dem Kurs erklärten mir, daß sie das an meiner Stelle auf jeden Fall tun würden, und es wäre die absolute Gelegenheit usw. Auch lernte ich diesen Manni ein bißchen kennen. Die Geschichten, die er erzählte und die Art und Weise seiner Anleitungen verdichteten den Eindruck-. 1. die richtige Schule ausgesucht zu haben und 2. es mit jemand zu tun zu haben, bei dem Sicherheit absolute Priorität hat. In seinem Gesicht sah ich auch jenen Blick, den ich inzwischen nicht mehr ganz so irrational empfand.

"Also wenn du mal mit irgend jemand tandemfliegen solltest - dann mit Manni. Was soll passieren?" - das Pflänzchen in mir nahm Gestalt an.

Nach drei Tagen war ich soweit, d. h. meine Abwehr war ausgeschaltet, der Verstand hatte ausgesetzt - am Samstag sollte es losgehen.
Wir schauten fast drei Stunden zu, wie zahlreiche Gleitschirme und Drachen bei phantastischem Wetter über dem Berg kreisten. Ganz da oben konnte man die Startrampe erkennen.

"Von da oben soll ich springen?" - "Ganz ruhig" - sagte die Pflanze.

In der Seilbahn nach oben, als sich plötzlich die Blickrichtung änderte - die ganze Zeit hatte ich von unten nach oben geguckt - nun sah ich die Welt da unten immer kleiner werden, setzte einen Moment der Verstand wieder ein-. Bist du denn verrückt geworden?? Schweißnasse Handflächen und Herzklopfen bis zum Hals!
Oben angekommen war ich äußerlich ruhig aber innerlich auf's höchste erregt. Wir bauten den Drachen auf - ein großer herrlicher Vogel mit weißen Flügeln. Bekannte von meinem Piloten beruhigten mich: "Du fliegst mit einem der Besten, brauchst keine Angst zu haben."

Und dann ein paar knappe präzise Anweisungen, alles anscheinend gar kein Problem. Nur in meinem Kopf blieben Fragen über Fragen. wie, wo, was ...

Wir rannten los - und ich schloß die Augen. Kein Boden mehr unter mir, ziemlich turbulenter Wind. Irgendwie - plötzlich alles ganz logisch und leicht - fand ich die richtige Position für Kopf und Körper.
Ich konnte nicht fassen, was ich da sah und fühlte. Ab und zu fielen wir beim Aufsteigen auch mal wieder ein paar Meter nach unten. Sofort setzte Kribbeln im Bauch ein, Gedankenblitze- Was ist, wenn doch nicht alles klappt und du an so einem Felsen deine letzte Puhe findest? Nun, dann hast du ja noch die Chance, als Vogel wiedergeboren zu werden - die Pflanze, die inzwischen vollständig Besitz von mir ergriffen hatte, machte sich lustig über mich.
Als ich aber meinen Piloten neben mir sah, sein beruhigendes und wissendes Lächeln, fiel langsam jede Verkrampfung von mir und ich sah die Berge unter mir. Lange, lange flogen wir dann in ruhigeren Winden über rauhe Felsen, schneebedeckte Täler, Schloß und Wiesen - und doch viel zu kurz.
Eine Saite in meiner Seele ist angeschlagen worden, die ich kaum Zeit fand zu begreifen.
Und dann - Landeanflug und perfektes Aufsetzen, und alles war vorbei.

Hab' ich geträumt? War ich wirklich dort oben? Werde ich das jemals noch einmal erleben können?
Abends kann ich nicht einschlafen, versuche mir diesen Augenblick noch einmal zurückzurufen. Es gelingt nur teilweise. Life is life!
Heute sitze ich auf unserer Wiese und schaue den Störchen zu, wie sie in der Luft kreisen. Alles ist anders geworden. Ich bin eine andere geworden. Den Blick weit in die Ferne gerichtet träume ich immer wieder den gleichen Traum - vom Fliegen!


Foto-Archiv abschweb Tagebuch 17.6.2000