Sommerlich warm, natürlich aus Süd, vom Tegelberg reicht der Blick bis zu Details der Skyline von München (85 km). Ich rechne mit späterer Drehung auf West. Verückterweise verschwindet meine 1,5 m Auslegerstange. Ich muss mir was einfallen lassen und entscheide mich für die Turmposition. Weil meine Canon IXUS 400 in letzter Zeit immer schlechter wird und deutlich verschwommene Bildteile produziert, habe ich Giselas Kamera auch dabei, die bastele ich an den Bügel, da kann ich sie immer wieder einschalten (leider nötig) und manuell auslösen. Ja, tatsächlich West! Der Startwind wird immer besser.
Am Westgrat drehen welche auf, ich finde dort, knapp leeseitig versetzt, bestenfalls Null Sinken, das reicht nicht zum Eindrehen.
Ganz bös klemmt mal wieder der Reißverschluss. Eigentlich würde meine Kameraposition ja eine stehende Landung zulassen, aber um aus dem Sack zu kommen, müsste ich den Reißverschluss womöglich zerstören. Das will ich nicht. Ich entscheide mich für den Anflug auf St. Coloman.
Auf dem Rückweg zur Bahn erreicht mich Giselas Anruf. Mein Berliner Freund Jürgen ist gestern an Krebs gstorben. Ich habe nichts geahnt. Er hat mir bei unseren letzten Telefonaten nichts darüber gesagt, auch keine Andeutungen gemacht, nur, dass er jetzt einen kleineren Schirm bräuchte. Wir haben uns in den letzten Jahren nicht oft gesehen, aber er ist in den letzten dreißig Jahren immer Teil meines Lebens gewesen.
Um 1980 herum haben wir zusammen Rockmusik gemacht, er am Bass, ich an den Keyboards. Zuvor waren wir uns in der Anti-AKW-Bewegung begegnet und nun spielten wir für "Rock gegen Rechts". Weiter ging es in typisch Berliner Übungskellern mit skurrilen Formationen und teilweise bemerkenswerten Musikern, reichlich "Psychedelic"! Ich erinnere mich genau, wie ein Session-Gitarrist mal einen Beutel mit weißem Pulver mitbrachte, Keiner der Band hatte damit was am Hut, aber das Zeugs klemmte dann ewig lang zwischen Bassbox und Amp und rieselte wohl irgendwann durch die Ritzen.
Jürgen hat mich auch mitgenommen, um an Softwareentwicklungen für Berliner Firmen zu arbeiten, mit den Kontakten hab ich dann auch weiterhin noch längere Zeit Computerjobs machen können, ohne jemals Informatik studiert zu haben. Auch später, als ich schon lange im Allgäu wohnte, hat er mir gelegentlich - wenn ich in finanzieller Bedrängnis war - Computeraufträge zugeschanzt.
Aber zunächst haben wir 1985 gemeinsam in Berlin am Teufelsberg das Drachenfliegen gelernt. Um genau zu sein - Jürgen hat zuerst angefangen und mich dann animiert. Ich hatte mehr Zeit und so waren wir bald gleichauf. Den ersten Flug von 50 m haben wir dann am gleichen Nachmittag gemacht.
Unser beider Sucht war nicht mehr aufzuhalten. Bei mir führte die Fliegerei zum Wegzug aus Berlin. Zum Berufsweg des Fluglehrers. Nach Heidelberg, dann wieder ins Allgäu. Dort hab ich dann auch die Gleitschirmfliegerei professionalisiert.
Jürgen hat bei mir dann das Tütenfliegen gelernt. Wir haben uns gegenseitig besucht, immer mit Fluggerät.
Die Idee zur eigenen Website hatten wir gemeinsam, insofern ist er auch einer der Väter von abschweb.de. Für die ersten Seiten hat er seinen AOL-Webspace zur Verfügung gestellt und die englischen Versionen verfasst.
Bei der Hochzeit von Gisela und mir war er Trauzeuge.
Wenn ich mir jemals einen Neuanfang würde vorstellen müssen, mit Jürgen hätte ich ihn mir vorstellen können.
Ich werde ihn nie vergessen.