Vercorin

„Im Westen sieht es heller aus.“ Mit diesem Satz fangen zahlreiche Geschichten von Manfred an. Das stimmt oft im Allgäu. Heute stimmt das auch für mich, auf Flugurlaub im Wallis. Wegen Nieselregen verlasse ich das Flugmekka Fiesch. Eigentlich kam ich her mit der Hoffnung auf ruhige Herbstflüge mit großer Arbeitshöhe und großartigem Panorama. Gestern habe ich wegen Starkwind und tiefer Basis einen Wandertag im mir bisher unbekannten Fluggelände Vercorin eingelegt, bin dort von Wolken verschluckt worden und habe den ersten Schnee des Jahres auf den Kopf bekommen.
In der DHV-Geländedatenbank steht zum hiesigen Startplatz „Drachen: Nein“. Das ist wie so häufig kompletter Unsinn. Der Deltaclub Wallis hat hier gerade letztes Jahr die Drachenrampe Richtung WNW neu, größer und schöner gebaut, um insbesondere den zahlreichen Starrflügler-Piloten des Clubs sichere Starts zu ermöglichen.
Nach Nord gibt es an der Gipfelstation der „Cret du Midi“ einen felsigen Klippenstart. Nach SW und SO kann auf schönen Wiesenhängen gestartet werden. Ansonsten kann man sich das Flug-Gelände vorstellen, wie den Tegelberg zweimal aufeinander gestellt. Der Landeplatz liegt bei Chalais in der Talmitte des Wallis neben einem Sportplatz. Als Landekreis ist ein Smiley mit Knollennase ins Gras gemäht. Dessen Koordinaten beim DHV sind auch veraltet, dort wird ein neues Gewerbegebiet erschlossen. Mit dem Drachenauto fährt man die ersten 900 Höhenmeter hinauf in das Bergdörfchen Vercorin. Zum Auto Abholen nach dem Flug gibt es auch eine kleine Gondelbahn. Von dort bringt eine komfortable Umlauf-Gondelbahn mit eigener gepolsterter Drachentransportgondel und freundlichen hilfsbereiten Mitarbeitern Drachen und Flieger weitere 1000 m hinauf zur Bergstation Cret du Midi, der „mittleren Gräte“. Welcher Quatschkopf den Startplatz als „Mittleren Brusthügel“ in den DHV-XC eingepflegt hat, will ich gar nicht wissen.
Am Startplatz ist alegere Stimmung und umlaufender Wind. Gleitschirme überhöhen zu meiner Überraschung schon vor 10 Uhr den Start, obwohl heute nur ein thermikschwacher Gradient angekündigt ist. Um die üblichen freundlichen Neckereien mit der Gleitschirmfraktion richtig aufzunehmen, ist es hier allerdings hilfreich wenigstens minimal Französisch zu verstehen, denn auf dem Weg vom Oberwallis hierher habe ich zwar nicht die Kantons- aber sehr deutlich die Sprach-Grenze überquert.
Ich starte zu einem gigantischen Morgen-Abgleiter und kann erste Thermikansätze zum Verlängern nutzen. Vorschriftsgemäß fliege ich erst 300 m über Grund vom Berg zum Landeplatz ab. Bei der Auswertung habe ich trotzdem um zweimeterfünfzig den Luftraum des Flugplatzes Sion verletzt, auf dessen Landebahn man runterschauen kann. Auch eine Mentalitätsgrenze ist beim Übertritt in den französischen Sprachraum überwunden. Der unfair große Luftraum ist zwar eine Gefahr für das schöne Fluggebiet, aber er bekümmert hier trotzdem kaum einen der anderen Flieger.
Am Landeplatz werde ich von einem einheimischen Drachenflieger für meine Landung auf der Nase des Smiley gelobt. Er wartet auf Gesellschaft, die anscheinend nicht eintrifft. Ob ich einen weiteren Flug unternehmen wolle?
Hm, eigentlich sehe ich 6 lange Stunden der Heimreise vor mir. Ich lasse mich verführen und investiere meinen letzten 20 SFr-Schein in die erneute Bergfahrt. Zusammen kurbeln wir beiden Drachen dann ein Stündchen in der pulsierenden, schwächlichen Herbstthermik, die ich gar nicht erwartet hätte.
Landung im frischen Talwind und Gondelfahrt zurück zu den Autos gehen geschmeidig, und so komme ich mit einer neuen rundum guten Erfahrung auf die längliche Heimreise.
WinDfried (Sonntag 6. September 2015)