Kapitel 7: Die Wundertüte


Zurück ins Jahr '89 - die Zeit, in der die Gleitschirme sich von ihrem Vorbild, dem Flächenfallschirm, emanzipierten.



Die Eintrittsöffnungen wurden immer dürftigere Schlitze, teilweise mit Gaze überspannt oder gar zugenäht. Wöchentlich stürzte irgendwer ab, und nicht nur Unbekannte. Wer oben mitfliegen wollte, braucht zweimal jährlich einen neuen Schirm. Mit etwas älterem anzutreten, widersprach nicht nur dem Schickimicki der Szene, man sah auch ganz real (leistungsmäßig) alt aus.

Dort als Fluglehrer zu bestehen, wäre undenkbar ohne totale Identifikation, ohne der wilde Hund zu sein oder sein zu wollen. Ich wollte nicht. Und zog mich zurück. Den Gleitschirm degradierte ich zum gelegentlichen Winterspaß.



Anfang '94

Meine Drachenflugschule lief nicht mehr, alle Welt wollte nur noch Gleitschirm fliegen lernen.
Genau zu diesem Zeitpunkt hatte die Flugschule Tegelberg keinen Fluglehrer mehr.
Das war doch wieder eine Herausforderung - aber nicht ohne Gleitschirm zu haben.

Ich fuhr ins Allgäu, wollte Schirme ausprobieren, konnte wetterbedingt nichts machen. Nahm den erstbesten Krüppelschirm zum Fluglehrer-Eingangstest mit, fiel natürlich prompt durch, weil der statt in die Spirale nur ins Trudeln kam.
Ich musste wohl doch mehr für die Sache tun.

Es gab wundervoll problemlose Schirme an der Schule, ich nahm deutlich wahr, dass sich der Sport in den letzten Jahren doch weiterentwickelt hatte. Aber keiner von denen stand mir zum Trainieren zur Verfügung, und eben ständig. Also griff ich zu dem, den keiner wollte (Prisma), mit dem niemand klarkam, und ich sah es auch noch als Extra-Herausforderung an! Kaufte das Teil, übte und übte!

Das Startproblem war mit Tricks lösbar. Ich stieg oft bedeutend besser als die anderen, was meine Motivation noch steigerte! Nur auf Turbulenzen reagierte er extrem giftig. Ein Frust-Höhepunkt: an einem wunderbaren Frühjahrs-Thermiktag gab ich nach dem achten Einklapper entnervt auf und landete. Was mir hätte zu denken geben sollen: Beim Thermik kreisen über dem Pfrontener Talkessel ging der Schirm völlig abrupt ins Trudeln, ich verlor fast 200 Höhenmeter, bis er wieder unter Kontrolle war. Immerhin, ich hatte diese Höhe reichlich zur Verfügung.

Dessen ungeachtet war ich mittlerweite dermaßen fit, dass der nächste Lehrertest kein Problem mehr war.



Endstation, Ende November '95.

Ich besteige den Aggenstein von Süden, von Grän aus. Als ich oben starte, weht der Wind zwischen Ost und Südost, also seitlich von links. Nach problemlosen Start kann ich im Hangaufwind des Südgrates den Gipfel überhöhen, aber der vorgelagerte Ostgipfel sorgt gelegentlich für heftige Leeturbulenzen.

Ganz so wild hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ein Schlag: Der Schirm klappt zur Hälfte ein. Ich reagiere sofort, der Schirm kippt aber schlagartig zur anderen Seite. Trudelt. Zu diesem Zeitpunkt: 30 m höher als der Gipfel, 80 m über Grund. Nichts ging mehr. Einschlag. Benommen sortiere ich meine Knochen. Heli nach Innsbruck. 9 Wochen Gipskorsett.

Ein Tag danach stehe ich am Tegelberg am Start.
Mit Drachen. Unendlich geschwächt.
Kaum fähig, 10 m durchzulaufen.

Aber es war so bitter nötig für mein Lebensgefühl.




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